Warum der 7-38-55-Mythos nicht hält, was er verspricht

(© Melanie Vogel) Manche einfachen Regeln scheinen die Lösung für komplexe Probleme zu sein – besonders wenn es um menschliches Verhalten geht. Bonuspunkte gibt es, wenn die Regel eingängig und leicht zu merken ist. Doch solche Regeln halten oft einer tiefergehenden Analyse nicht stand. Eine davon: Die sogenannte 7-38-55-Regel.

Was besagt die 7-38-55-Regel?

Die 7-38-55-Regel behauptet, dass nur 7% der Bedeutung eines Gesprächs durch Worte vermittelt werden, während 38% durch den Tonfall und 55% durch Körpersprache übertragen werden. Diese Regel wird häufig zitiert, um die angeblich geringe Bedeutung von Worten im Vergleich zu nonverbalen Signalen hervorzuheben.

Doch woher kommt diese Regel? Sie geht auf den Psychologen Albert Mehrabian zurück, der in den späten 1960er Jahren Experimente zu emotionaler Kommunikation durchführte. Seine Studien untersuchten, ob Zuhörer emotionale Inhalte eher aus dem Tonfall oder Gesichtsausdrücken herauslesen – allerdings unter künstlichen Laborbedingungen, die keine realen Gespräche abbildeten. Die Ergebnisse wurden später in seiner Publikation Silent Messages (1971) zusammengefasst, wo die 7-38-55-Regel erstmals populär wurde.

Die Grenzen von Mehrabians Forschung

Mehrabians Experimente waren nicht auf die allgemeine Kommunikation anwendbar. Sie beschränkten sich auf:

  • Kleine, nicht repräsentative Probandengruppen (nur Frauen).
  • Laborbedingungen, die keine realen Interaktionen abbildeten.
  • Den Fokus auf Emotionen, nicht auf Informationsvermittlung oder Alltagssituationen.

Auch Mehrabian selbst stellte später klar: Die 7-38-55-Regel ist ausschließlich auf die Kommunikation von Gefühlen und Einstellungen anwendbar – nicht auf alle Gespräche. Dennoch hat sich die Regel zu einem Mythos entwickelt, der oft falsch interpretiert wird.

Warum der Mythos problematisch ist

Die Popularität der 7-38-55-Regel hat zu Fehlschlüssen geführt:

  • Missinterpretation der Worte: Der Mythos suggeriert, dass Worte fast irrelevant sind. Doch wie könnten wir dann Vorträge, Diskussionen oder gar fremde Sprachen verstehen?
  • Vereinfachung komplexer Dynamiken: Kommunikation wird reduziert auf isolierte Signale, wie Tonfall oder Gesten. Aber ist jemand mit verschränkten Armen verschlossen – oder ist ihm einfach kalt?

Solche Fehldeutungen sind nicht nur irreführend, sondern ignorieren die Komplexität von Kommunikation.

Kommunikation ist mehr als Zahlen

Kommunikation besteht aus einem Zusammenspiel vieler Faktoren, darunter:

  • Kontext: Die Umwelt, Rollen der Gesprächspartner und ihre gemeinsame Geschichte beeinflussen die Bedeutung von Botschaften.
  • Cluster von Signalen: Kein einzelnes Signal – etwa ein Lächeln oder Augenkontakt – sagt allein die Wahrheit. Es braucht die Gesamtheit von Mimik, Gestik, Tonfall und Worten, um eine Botschaft zu verstehen.
  • Kohärenz: Stimmen die Worte mit den nonverbalen Signalen überein? Wenn nicht, können Missverständnisse entstehen.

Die Auseinandersetzung mit diesen Dynamiken erfordert Neugier, Empathie und emotionale Intelligenz – nicht eine starre Formel wie die 7-38-55-Regel. Wenn Worte wirklich nur 7% der Bedeutung tragen, warum lernen wir dann Fremdsprachen? Warum sind Wörterbücher notwendig, wenn 93% der Kommunikation durch Gesten und Tonfall vermittelt werden könnten? Tatsächlich zeigen solche Beispiele, dass die Regel kaum praxistauglich ist.

Fazit: Keine Formel für gute Gespräche

Die 7-38-55-Regel ist ein Mythos, der mehr über die Methodologie einer alten Studie aussagt als über echte Kommunikation. Worte, Tonfall und Körpersprache sind alle wichtig, aber ihre Bedeutung hängt vom Kontext und den Gesprächspartnern ab. Gute Kommunikation erfordert Neugier, Wahrnehmungsfähigkeit und ein tiefes Verständnis für die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern.

Es gibt keine einfache Zahlenregel, um Gespräche zu meistern – und das ist vielleicht sogar beruhigend. Denn es bedeutet, dass Kommunikation individuell ist und wir unsere eigenen Wege finden können, bedeutungsvolle Verbindungen aufzubauen.

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