Wie Neugier Trennungen überwindet

(© Melanie Vogel) Wir leben in einer Zeit, in der das Fraktale unserer Welt epidemische Ausmaße angenommen hat. Spätestens seit den Pandemiejahren wird deutlich: Trennungen durchziehen Gesellschaften weltweit. Unser soziales Gefüge ist nicht mehr nur auf dem Prüfstand, sondern in vielen Bereichen auseinandergerissen. „Wir“ gegen „Die“ – politisch, medial, zwischenmenschlich. Feindbilder haben Hochkonjunktur. Unter solchen Bedingungen gedeihen Länder und Nationen nicht, das zeigt die Geschichte. Wir spüren es aber auch selbst. Zwietracht auf kollektiver Ebene verursacht individuelle Trauer. Ein vergiftetes Umfeld vergiftet immer auch die, die sich in diesem Umfeld aufhalten. Was also ist zu tun? Wie könnten die zum Teil tiefen Gräben überbrückt werden? Neugier ist seit Menschengedenken eine der wichtigsten Ressourcen, die uns nicht nur kreative neue Wege erkennen lässt, sondern seit jeher auch das Fremde überwunden hat.

Raus aus der „Kodifizierung des Denkens“

Die Spaltung heutiger Gesellschaften ist nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sondern ihre Wurzeln sind Jahrhunderte alt. Vermutlich können wir sie sogar zurückverfolgen bis in die Antike, als Philosophen begannen, Geist und Materie voneinander zu trennen. Viele Epochen später war es dann unter anderem René Descartes, der diese Trennung auf die Spitze trieb durch „Ich denke, also bin ich“ und damit das Fühlen aus dem menschlichen Kompetenz-Set verbannte. Wenn wir die Welt aber nur noch denken und nicht mehr fühlen, dann erliegen wir stetig unseren Erinnerungen, Vorurteilen, vorgefertigten Meinungen und haben kein Korrelativ mehr, das uns hinterfragen lässt, ob unser Denken denn auch gleichzeitig unser Fühlen ist.

Nicht umsonst nennen wir unser Hirn heute häufig eine „Denkmaschine“. Doch wer maschinell denkt, neigt zu Polarisierungen. Denn Dualitäten, Ambiguitäten oder Unklarheiten können wir denkend nur beseitigen, indem wir uns auf eine Seite schlagen und so dem Zerren in unserem Hirn ein Ende setzen.

Nehmen wir jedoch das Fühlen hinzu, können wir Polaritäten überbrücken, Ambiguitäten und Unsicherheiten länger aushalten und Dualitäten als das erkennen, was sie sind: zwei Seiten ein und derselben Medaille, die von uns nicht immer eine klare Entscheidung verlangen, sondern uns viel öfter zu einem „Sowohl-als-auch“ einladen.

Wenn wir nur denkend die Welt erfahren, verschließen wir uns davor, die Perspektiven, Geschichten und die Menschlichkeit anderer zu verstehen. So entsteht inneres und äußeres Leid. Anstatt den verbindenden Dialog zu suchen, werden Menschen ausgegrenzt, beschämt, verurteilt oder durch Objektivierungen entmenschlicht. Die einfache „Logik“ dahinter lautet: Wer nicht mit uns denkt, denkt gegen uns.

In der Folge verharren wir in unseren Denkblasen, die durch Algorithmen digital auch noch bestärkt werden, vermeiden den Kontakt mit Andersdenkenden und sind auch weiterhin keinen anderen Denk- oder Seinsweisen ausgesetzt. So kodifizieren wir unsere eigenen Vorurteile immer weiter und vergrößern die Trennungen zwischen „uns“ und „den anderen”.

Starten wir eine Ära der Neugier

Diese Normierung des Denkens, die in vielen Bereichen schon längst das Maß der Ideologisierung erreicht hat, schadet dem einzelnen Menschen. Es schadet aber auch der Gesellschaft. Denn durch und durch normierte Denkerinnen und Denker lassen auch im Unternehmenskontext nichts mehr gelten, was nicht ihrem eigenen Denk-Kodex entspricht. Und genau diese Form der „Denk-Kontrolle“ ist Gift für die Zusammenarbeit und toxisch, wenn es darum geht, z.B. Innovationen oder Veränderungen voranzutreiben.

Change und Innovation brauchen als Grundlage Vertrauen und die Freiheit des Denkens. Beides bedingt sich gegenseitig und wird unmöglich in einer Kultur des gleichschalteten Denkens. Jedes totalitäre System der Vergangenheit sollte hier Beispiel genug sein. Prosperität entsteht nicht, wenn die mentale Stärke der Menschen, auf welche Art auch immer, eingekesselt wird.

Was wir stattdessen (wieder) brauchen ist eine Kultur der Neugier. Die Freude auf das gegenseitige Kennenlernen, das Entdecken und die Abenteuerlust, die damit verbunden sind. Studien zeigen, dass Menschen, die von epistemischer (= wissensgetriebener) Neugier angetrieben sind, nicht nur kreativer, kommunikativer und erfolgreicher im Beruf sind, sondern insgesamt auch gesünder, vitaler und deutlich älter werden.

Neugier ist die natürlichste Ressource, auf die wir Menschen zurückgreifen können und jeder gesunde Mensch besitzt sie von Geburt an. Sie ist unerschöpflich, wenn wir sie nicht unterdrücken, sondern vielmehr wieder lernen, sie in unser Leben zu integrieren.

Was könnten wir dafür tun?

Wir könnten beispielsweise:

  • lernen, wirkungsvolle Fragen zu stellen, anstatt Urteile zu fällen. 
  • aufmerksam zuhören und uns bemühen, den anderen zu verstehen, anstatt ihn permanent mit uns selbst abzugleichen.
  • nach Werten statt nach Ansichten suchen. 
  • unsere eigene Vergangenheit und unsere eigenen Gefühle erkennen, um bewusst aus ihnen auszubrechen, wenn wir merken, dass sie uns nicht mehr guttun.

Vier Schritte zu tieferer Neugier

Wir neigen dazu, unser Verständnis von Neugier einzuschränken, indem wir von ihr als einer Kraft zur Informationsgewinnung sprechen. Die meisten Menschen betrachten es als eine rein intellektuelle Beschäftigung und nicht als eine, die unser Herz und unseren Geist bewegen kann. 

Obwohl diese Art von Neugier wichtig ist, kann sie doch noch viel tiefer gehen. Diese Art von Neugier lädt uns dazu ein, sie als Kraft für sinnvolle Verbindungen und Transformationen zu nutzen. Sie stärkt unsere Beziehungen zu uns selbst und zueinander und hilft uns, Meinungsverschiedenheiten besser zu bewältigen. Vier Schritte können helfen, diese tiefgreifende Neugier wiederzuentdecken und zu reaktivieren:

  1. Loslassen: Lassen Sie Ihre Annahmen, Vorurteile und Gewissheiten los.Wir hängen an ihnen, weil sie uns den Alltag erleichtern und uns Routinen schenken, die das Leben vermeintlich leicht machen. Tatsächlich aber sind ein Großteil dieser Denkstrukturen in den ersten sechs Lebensjahren entstanden und hoffnungslos veraltet. Betrachten Sie es wie ein Auto. Das senden Sie jährlich zum TÜV, damit der „Auto-Doktor“ repariert, was kaputt oder austauscht, was veraltet ist. Unser mentaler Motor braucht auch regelmäßige Wartungen, um fit zu bleiben. Verharrt unser Hirn mit dem, was es in den ersten sechs Lebensjahren verinnerlicht hat, wird es satt uns bequem und kann sein volles Potenzial bis ans Lebensende nicht auskosten. Was für eine Verschwendung natürlicher Ressourcen!
  2. Absicht setzen: Seien Sie bereit, Ihre Denkweisen und Einstellungen zu verändern.Absicht bedeutet, dass Sie jetzt mit Neugier vorgehen und nicht willkürlich. Die Rückkehr zur Neugier ist eine bewusste Entscheidung – das passiert nicht einfach so! Wir wählen jeden Tag, ob wir mit positiver Neugier oder mit vorbehaltlicher Ablehnung durch das Leben gehen. Finden Sie also ganz bewusst heraus, was „die andere Seite“ wirklich denkt. Und warum sie so denkt, wie sie denkt. Fragen Sie nach – neugierig, nicht anklagend. Haben Sie den Mut, sich überraschen zu lassen!
  3. In Würde agieren: Erkennen Sie den Wert jedes Menschen, auch Ihren eigenen. Wertschätzen bedeutet, die Menschlichkeit jedes einzelnen Menschen anzuerkennen, unabhängig davon, was er getan hat oder was Sie für ihn empfinden. Solange wir nicht den inhärenten Wert anderer würdigen und daran arbeiten, sie als komplexe Wesen mit Leben, Familie, Freuden, Jobs, Persönlichkeiten, Vorlieben und Abneigungen zu sehen, können wir keine tiefe Neugier entwickeln. Die Psychologinnen Lasana Harris und Susan Fiske haben herausgefunden, dass wir schneller zur Entmenschlichung neigen, wenn wir Würde, Werte und Emotionen anderer Menschen abwerten. Wenn wir dagegen jemanden wertschätzen, wählen wir einen Weg der Verbundenheit statt der Distanz, des Verständnisses statt des Urteils und der Liebe statt der Gleichgültigkeit. Wir denken gern, dass wir Menschen bereits vollständig als komplexe Menschen sehen. Aber wenn es um den Idioten geht, der einem auf der Autobahn den Weg abschneidet, um den Kollegen, der eine wandelnde Mikroaggression ist, oder um die harte Haltung zu uns selbst, sieht die Sache meistens schon wieder ganz anders aus.
  4. Annehmen: Akzeptieren Sie die schweren Zeiten in Ihrem Leben.Akzeptanz heißt nicht Ergebenheit. Sondern es bedeutet erst einmal nur; „Die Situation ist da.“ So formulierte es Konrad Adenauer einst – und hierin steckt eine Haltung der Gelassenheit. Aus dieser annehmenden Haltung können wir – neugierig – schauen, welche Botschaft oder Lernaufgabe eine aktuelle Situation für uns hat. Jeder Mensch, dem wir begegnen, jede Situation, in der wir uns freiwillig oder unfreiwillig wiederfinden, ist ein Spielfeld von Möglichkeiten. Wir können in der Haltung der Ablehnung in den Kampf gehen und uns aufreiben (meistens ohne sichtbaren Gewinn) oder wir können die Situation mit Gelassenheit betrachten und das Beste daraus machen.

Ein Leben in Neugier zu leben, ist ein Leben der Übung und der Praxis. Macht es immer Spaß? Sicher nicht. Bringt es uns immer weiter? Mit großer Wahrscheinlichkeit ja! Neugier ist ein natürlicher Antreiber, ein Entwicklungsmotor, der uns zur Verfügung steht. Wählen wir ein Leben in Neugier, wählen wir ein Leben von Wachstum und Entwicklung bis ins hohe Alter.

Leonardo da Vinci und Albert Einstein haben es uns vorgemacht. Was diese beiden mit Neugier zu tun haben und welche frappierenden Parallelen zwischen ihnen sonst noch bestehen, habe ich in meinem Buch „Der Neugier-Code“ ausführlich beschrieben. Sie können es direkt über unseren Verlag bestellen.