Virtual Literacy – das “Ich” im digitalen Raum

(© Melanie Vogel) Wie verändert sich das „Ich“ im digitalen Miteinander? Wie können wir auf gesunde und selbstbewusste Weise die analoge und digitale Welt miteinander verbinden? Wie kreieren wir eine gelingende Form der „WIRtualität“? Das waren Fragen, die ich im Rahmen meines Vortrages „Virtual Literacy“ beim diesjährigen University:Future Festival adressierte (hier in voller Länge auf dem YouTube-Kanal des HFD). Wer Virtual Literacy als Kompetenz beherrscht, ist in der Lage, den Dualismus zwischen digitaler und analoger Welt aufzulösen – so lautete meine Kernthese.

In den letzten zwei Jahren ist unser (Arbeits-)Leben in sehr vielen Bereichen vollends in der Digitalität angekommen. Millionen von Menschen arbeiten seit vielen Monaten autonom im Homeoffice, kreieren sich dort einen individuellen Rückzugs- und Arbeitsraum und arrangieren sich mit der Getrenntheit von Kolleginnen und Kollegen. Parallel entsteht jedoch langsam aber sicher ein Bewusstsein dafür, dass wir einen Weg hin zu einem kollektiven – digitalen – Wir finden müssen. Doch wie können wir die „WIRtualität“ herstellen und gestalten, wenn wir gleichzeitig lernen und uns zunächst erst einmal bewusst machen müssen, welchen Herausforderungen unser „Ich“ im digitalen Spiegel Stand halten muss? Wir erleben täglich

  • ein permanentes Wegschauen, wenn wir sprechen und andere zuhören, denn kein Mensch schafft es, ununterbrochen auf einen einzelnen Punkt – das Kamera-Objektiv – zu schauen.
  • Anonymität in Bezug auf unsere Interaktion, denn nicht alle Kolleginnen und Kollegen schalten die Kamera ein.
  • eine doppelte Musterung: Die Musterung durch uns selbst, weil wir uns ständig in der eigenen Kamera spiegeln – und die Musterung durch die Teilnehmenden an der Videokonferenz.

Um zu einer gelingenden „WIRtualität“ zu gelangen, brauchen wir neue Kompetenzen – und eine davon bezeichne ich als „Virtual Literacy“. Literacy bedeutet im Ursprung „Lese- und Schreibverständnis“, umfasst aber auch Kompetenzen wie Sinnverstehen, (sprachliche) Abstraktionsfähigkeit, Kenntnis. Insgesamt steht „Literacy“ für ein Kontextverständnis

Virtual Literacy bedeutet, die virtuelle Welt mit der realen Welt zu verbinden und diese erweiterte Realität in ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen und bestmöglich nutzen zu können. Virtual Literacy bedeutet, den Dualismus zwischen digitaler und analoger Welt aufzulösen.

Der Dualismus zwischen digitaler und analoger Welt oder auch zwischen Realität und Virtualität besteht, seit wir über Digitalisierung sprechen, unsere Welt also neben Schrift und Sprache auch in Bits und Bytes darstellen. Oft wird dieser Dualismus durch das kleine Wörtchen „nur“ offenbar. “Es ist nur ein virtueller Raum.“ Oder „Dieses Phänomen findet sich nur im Internet“ – und damit unausgesprochen nicht in der realen Welt.

Virtual Literacy ermöglicht uns, den digitalen Dualismus – also die strikte Trennung zwischen Virtualität und Realität – aufzugeben und anzuerkennen, dass unser digitales Verhalten genauso wirklich ist wie unser Verhalten in der analogen Welt. Unser Tun und Unterlassen, Entscheidungen, die wir treffen, Verantwortung, die wir annehmen oder ablehnen, sollten zu einem selbstverständlichen „Sowohl-als-auch“ werden, denn wir sind sowohl digital als auch analog aktiv. Unser Dasein hat sich erweitert.

  1. Gemeinsames Aushandeln: Was soll – im digitalen Arbeitskontext – ein „allgemeines Gesetz“ werden, um eine gelingende „WIRtualität“ kreieren zu können? Das gemeinschaftliche Aushandeln ist ein notwendiger Reflexionsprozess darüber, wie wir bisher und in Zukunft die digitale Arbeitswelt gestaltet haben und zukünftig gestalten wollen. Wann immer Kontexte ausgehandelt werden, spielen individuelle Aspekte ebenso eine Rolle wie teambezogene. Vom „Ich“ zum „Wir“ zurück zum „Ich“.
  2. Dilemma auflösen: Wir empfinden uns einerseits (im Homeoffice) als autonomes Selbst, andererseits aber mutieren wir auf den meisten Interaktions- und Kommunikationsplattformen zu einem digitalen (unfreien) Objekt, da wir unser Videobild weder verschieben, noch kreativ in einen anderen Kontext setzen können. Diese Unfreiheit findet jedoch nur in unserem Kopf statt. Das bedeutet: Wir können dieses Dilemma und die damit verbundene gefühlte Unfreiheit auflösen, indem wir uns bewusst machen, dass wir zwar unseren Avatar nicht verschieben können, unsere mentale Freiheit davon jedoch unbeeinträchtigt ist. Der Denkraum ist nach wie vor vorhanden – und Handlungsmöglichkeiten haben wir immer, pro-aktiv an einer gelingenden „WIRtualität“ mitzuarbeiten und unser „Ich“ ausbalanciert in der digitalen und analogen Welt zur Entfaltung kommen zu lassen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog vom Hochschulforum Digitalisierung.