(© Melanie Vogel) „Wissen wäre fatal. Die Ungewissheit ist es, die uns reizt. Ein Nebel macht die Dinge wunderschön.“ Das sagte Oscar Wilde und an dieser Stelle könnte diese Introspektion eigentlich enden. Und doch bleibt hierbei so vieles offen, denn:
- Wer sind wir in einer Wissensgesellschaft, wenn wir nicht(s) wissen?
- Was bleibt von unseren Wünschen, Träumen und Hoffnungen, wenn der Zukunftshorizont immer weniger vorhersehbar erscheint?
- Worin liegt der Reiz der Ungewissheit, wenn wir dazu neigen auf Nummer sicher zu gehen?
Ich lebe in der Schweiz, in einem kleinen Ort in Fußweite zu einem Naturschutzgebiet. Wir blicken täglich in die Natur und erleben „Wetterkino“, wie ich es bisher noch nie gekannt habe. So auch an einem Tag zwischen den Jahren, als die Welt in tiefen Nebel getaucht war und man keine 10 Meter weit schauen konnte. Mich zog es nach draußen, obwohl ich die Umgebung noch nicht besonders gut kenne und dazu neige, mich schnell zu verlaufen. Insofern schwang eine gewisse Abenteuerlust mit, als ich meine Wanderstiefel schnappte und mich dem unsichtbaren Horizont stellte.
Und tatsächlich erlebte ich das, was Oscar Wilde schon schrieb: Der Nebel macht die Dinge wunderschön – auf eine bizarre, mystische und unnatürlich stille Art. An diesem Tag fühlte ich eine neue Form der Verbundenheit. Nicht nur mit der Natur, sondern auch mit meiner Situation als Unternehmerin. Denn faktisch wandern wir unternehmerisch seit drei Jahren immer wieder im Nebel. Während der Pandemie war es völlig unklar, ob und wenn ja wann wir unser Business wieder unter „normalen“ Bedingungen aufnehmen können. Was würde von der altbekannten Normalität bleiben? Wann und wenn ja wie entscheiden wir uns für welchen unternehmerischen Kurs? Und woher werden wir wissen, ob der eingeschlagene Kurs der richtige ist?
Ich frage mich seither, wie die Menschen früher mit Ungewissheiten umgegangen sind. Was hat die Seefahrer der Vergangenheit dazu bewogen, sich abenteuerlustig auf ein Holzschiff zu schwingen und auf das Meer hinaus zu segeln – ohne zu wissen, wo sie ankommen werden? Bei gutem Wetter und Sonnenschein kann ich den Reiz in gewisser Weise nachvollziehen. Doch was ist bei schlechtem Wetter, Stürmen oder Nebel, wenn der Horizont nur bis zum Steuerrad reicht?
Erich Fromm war überzeugt: „Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt.“ Tatsächlich wurde mir an diesem nebelverhangenen Tag klar, dass es gar nicht immer sinnvoll ist, den Horizont zu sehen und sich in vermeintlicher Sicherheit zu wiegen.
Viele Unternehmensentscheidungen der letzten drei Jahre hätten wir bei klarer Sicht und Sonnenschein nie getroffen – und doch bereue ich keine einzige. Ganz im Gegenteil! In der Ungewissheit und im unternehmerischen Nebel haben wir vermutlich das unter Beweis gestellt, wozu die damaligen Seefahrer auch aufgerufen waren – und dabei viel Neuland entdeckt und uns in einer Schnelligkeit weiterentwickelt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Retrospektiv sind es mindestens die folgenden vier „Navigationsinstrumente“, die uns gute Dienste geleistet haben.
- Mut. „Mut“, so sagte Osho einmal, „ist eine Liebesaffäre mit der Ungewissheit.“ Wenn dem so ist, führe ich mit Mut heute eine fast schon innige Beziehung. Denn Mut, so habe ich in den letzten drei Jahren gelernt, heißt: die Möglichkeiten unseres Tuns täglich neu zu bewerten. Mit anderen Worten: Auch im Nebel sind wir handlungsfähig und brauchen nicht abwarten. Mit kleinen, bewussten Schritten kommt man stetig voran. Der Vorteil, auch das habe ich gelernt, ist: Man haushaltet besser mit den eigenen Energien und trifft jede Entscheidung viel bewusster – immer in dem Wissen, es könnte eine falsche sein.
- Intuition. Schon Einstein wusste: „Intuition ist alles, was zählt.“ Er betrachtete sie als ein „heiliges Geschenk“ – und ich gebe ihm recht. Wenn der Horizont im Nebel schwindet, können wir mit heutiger Navigationstechnik – sowohl in der Seefahrt als auch im Management – die Illusion der Sicherheit vorgaukeln. Der Verstand ist und bleibt, so wie ihn Einstein nannte, zwar ein „treuer Diener“, doch der allein reicht weder auf hoher See, noch im Business. Wenn wir Neuland entdecken und mit der Ambiguität einer VUCA-Welt umgehen müssen, sind Ahnung und Bauchgefühl wichtige Navigationsinstrumente. Viele Entwicklungen, die heute klar sichtbar sind, haben wir schon im Sommer/Herbst 2020 erahnt. Heute wissen wir, dass wir wichtig lagen und können im Nachhinein viele Unternehmensentscheidungen, die wir damals in tiefer Unwissenheit, rein auf unserer Intuition beruhend getroffen haben, verifizieren und logisch begründen.
- Innere Stärke. Wenn die Zukunft unklar ist – und seien wir ehrlich: das ist sie doch immer – und wir uns nicht auf Entscheidungen im außen verlassen oder auf sie warten können, brauchen wir einen neuen Kompass. Und der liegt nur in uns selbst. „Die schwierigste Zeit in unserem Leben, ist die beste Gelegenheit, innere Stärke zu entwickeln,“ sagt der Dalai Lama. Die letzten Jahre waren für mich nicht die schwierigste Zeit meines Lebens, aber insofern herausfordernd, weil ich seelisch und mental in einer für mich ganz neuen Form gefordert war. Wir mussten nicht nur uns und unser Business durch diese Zeit navigieren, sondern auch einen Sohn, dem kurz vor dem Abitur zunächst sämtliche Lebensträume entrissen wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Wert innerer Stärke nie wirklich verstanden. Ich wusste, irgendwie habe ich sie und irgendwo „sitzt“ sie auch in meinem Körper, aber wirklich gefühlt hatte ich sie bis dahin nie. Dank einer historischen Ausnahmesituation weiß ich jetzt, wo dieser glühende Ball der Stärke zu finden ist: in meiner Körpermitte. Es ist eine innere Energie, ein Lebenswille, der aus sich selbst heraus erstrahlt und gefühlt übermenschliche Kräfte verleiht. Wir alle haben diese innere Stärke – und sie macht uns unabhängig und frei. Egal, wie die aktuelle Wetterlage ist.
- Fokus, Fokus, Fokus. Das vierte Navigationsinstrument, das ich zu schätzen gelernt habe, ist die Fähigkeit, den Fokus darauf zu halten, was jetzt, in diesem Moment, wirklich wichtig ist. Fokus bedeutet, die Kakophonie im Außen auszublenden und sich auf sich selbst und die eigenen Ziele zu konzentrieren. Der Fokus hilft, sich zu zentrieren und keine Energie zu verschwenden in Dinge, die es nicht wert sind. Bleiben wir im Fokus determinieren – bestimmen – wir unsere eigene Realität. Ich habe viele Monate mit mir gehadert. Meine unternehmerischen Träume lösten sich Anfang 2020 in Luft auf, so wie die Träume meines Sohnes plötzlich wie Seifenblasen platzten. Viele Monate wussten wir nicht, wie neue Träume aussehen konnten und haben uns ausschließlich darauf fokussiert, einen Tag nach dem anderen bestmöglich zu bewältigen. Und irgendwann kamen unsere Träume wieder. Interessanterweise sind es die gleichen wie vor drei Jahren – lediglich die Wetterlage ist heute eine andere als damals.
Charlie Chaplin hat der Ungewissheit ein ganz besonderes Zitat gewidmet: „An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser.“ Schöner kann man nicht formulieren, dass wir bis zu einem gewissen Punkt immer im Nebel des Lebens navigieren. Jedoch besitzen wir alle Navigationsinstrumente, aus diesen Ungewissheiten des Lebens das Beste herauszuholen.
Im Nebel liegt – immer – innere Klarheit.