(© Melanie Vogel) Seit Jahrhunderten hat die Technologie die Welt verändert, doch in jüngster Zeit geschieht dies in einem beispiellosem Tempo. Die Frage drängt sich auf, ob die Menschheit mit diesem Wandel noch Schritt halten kann. Haben wir Gesellschaften geschaffen, die zu komplex und schnelllebig geworden sind? Was passiert, wenn Veränderungen so schnell erfolgen, das sich die unterschiedlichen Systeme nicht mehr auf natürliche Weise anpassen kann? Sicher scheint: Alle heute lebenden Generationen sind Teil eines riesigen Experiments, was die Flexibilität und Stabilität menschlicher Gesellschaftsordnungen angeht. Ist unsere Anpassungsfähigkeit in Gefahr?
Der Homo sapiens entwickelte sich vor etwa 300.000 Jahren als eigenständige Art. Während hunderttausende von Jahren die Entwicklung langsam erfolgte, erleben wir seit rund 250 Jahren ein immer schnellere Tempo der techno-sozialen Entwicklung, die nun Fragen über die Anpassungsfähigkeit der Menschheit aufwirft.
Gemessen in Generationen (wenn wir voraussetzen, dass jede Generation 20 Jahre dauert) gab es etwa 15.000 Generationen vor uns gab. Das wirklich Bemerkenswerte daran ist nicht die Zahl an sich, sondern die Tatsache, dass die Welt, die jede dieser Generationen erlebte, erstaunlich statisch war. Im Allgemeinen unterschied sich das „technisch-soziale“ Universum, in dem unser 9045. Urgroßelternteil lebte, nicht sehr von dem, in dem unser 9.046. Urgroßelternteil lebte. Das Gleiche gilt für die überwiegende Mehrheit der Generationen nach ihnen.
Diese Art von Stillstand von Generation zu Generation ist aktuell jedoch eindeutig nicht mehr gegeben. Stattdessen leben wir in einer Welt des schnellen Wandels, der von der Technologie angetrieben wird und eine technisch-soziale Welt von atemberaubender Komplexität hervorgebracht hat.
Ist das ein Problem? Haben wir eine Welt geschaffen, die zu komplex und schnelllebig ist?
Die Umstellung auf Landwirtschaft und die Domestizierung von Tieren vor etwa 9.000 Jahren trieb die Menschen dazu, sesshafte Gesellschaften zu gründen. Diese Gesellschaften wuchsen mit den Nahrungserträgen, die Ackerbau und Viehzucht ermöglichten. Auf diese Weise wurden Siedlungen zu Dörfern, Dörfer zu Städten und Städte zu Imperien bzw. heutigen Mega-Cities. Mit jedem Entwicklungsschritt haben die menschlichen Gesellschaften sowohl an Größe als auch an Komplexität zugenommen.
Komplexität kann auf viele Arten gemessen werden, aber eine der zielführendsten ist es, sich eine Gesellschaft als ein Netzwerk von Beziehungen vorzustellen. Als Jäger und Sammler in kleinen Gruppenverbänden lebten die Menschen in dem Netzwerk „Jeder kennt jeden“. Doch als die Gesellschaften größer wurden, änderte sich die Topologie. Es gab zwar immer noch lokale soziale Netzwerke, aber diese wurden in größere Beziehungsnetze eingebettet, die alles – von der Regierungsverwaltung bis zum Handel – abdeckten. Doch obwohl diese „zivilisatorischen“ Netzwerke komplexer waren als die, in denen Menschen vor 100.000 Jahren lebten, war das Tempo des Wandels immer noch langsam.
Wenn wir im Jahr 97 n. Chr. irgendwo im Römischen Reich lebten, benutzten wir wahrscheinlich die gleichen Werkzeuge wie unsere Großmutter oder unser Großvater. Auch die Regeln dieser sozialen Netzwerke änderten sich nur langsam. Die meisten Generationen erlebten im Laufe ihres Lebens keinen radikalen sozialen Wandel, es sei denn, eine Eroberungsarmee veränderte die Regeln des Zusammenlebens.
Techno-soziale Evolution
Aktuell jedoch vollzieht sich das Tempo bedeutender technologischer und sozialer Veränderungen innerhalb von Bruchteilen eines einzigen Menschenlebens. Überlegen Sie, wie viele Iterationen des Telefons Sie gesehen haben. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als Telefone über ein Kabel mit der Wand verbunden waren. Heutzutage schreitet die Technologie so schnell voran, dass wir alle alle paar Jahre gezwungen sind, ein neues Telefon zu kaufen, weil die alten einfach nicht mehr mithalten können.
Telefone sind nur ein Aspekt unserer technologischen Netzwerke, die sich radikal verändert haben. Noch tiefgreifender als das Telefon haben soziale Medien und andere digitale Plattformen die Werte und Normen unseres Zusammenlebens und der Kommunikation gewandelt. Von Dating-Apps bis hin zur rasanten Verbreitung politischer Desinformation: Das Verhalten der Menschen hat sich in einem Zeitraum, der nicht mehr als ein Jahrzehnt beträgt, immer wieder verändert.
Jedes System verfügt über inhärente Zeitskalen für Änderungen. Diese Zeitskalen basieren auf den „Gesetzen“ des Systems, seinen internen Ordnungsregeln. Wenn es sich bei dem System um eine Ansammlung von Planeten handelt, die einen Stern umkreisen, gelten die Gesetze der Schwerkraft und des Drehimpulses. Wenn es sich bei dem System um ein Nahrungsnetz in einem Teich handelt, kann die Zeitskala darauf basieren, wie lange es dauert, bis Wasser von einem Ende zum anderen fließt. Ein System kann sich in der Regel anpassen, wenn die inhärente Zeitskala des Systems nicht verändert wird. Als Reaktion auf diese Veränderungen wird es weder explodieren, noch auseinanderfallen.
Doch was passiert, wenn die Änderungen den inhärenten Zeitrahmen sprengen, Veränderungen also so schnell erfolgen, das sich das System nicht mehr auf natürliche Weise anpassen kann? Was ist der inhärente Zeitrahmen für die Netzwerke, aus denen unsere menschliche technisch-soziale Welt besteht? Die logische Antwort müsste lauten: ungefähr ein Menschenleben (also etwa ein Jahrhundert).
Aktuell treiben wir jedoch starke Veränderungen in Zeiträumen voran, die weniger als eine einzige Generation betragen. Ist das zu schnell? Ist das Tempo des technologischen Wandels – gepaart mit den Auswirkungen, die diese Veränderungen auf die soziale Organisation (d.h. die Regeln des Netzwerks) haben – mittlerweile zu schnell, als dass unsere Systeme sie absorbieren könnten?
Ich kann die Frage nicht beantworten. Sicher scheint jedoch Folgendes: Alle heute lebenden Generationen sind Teil eines riesigen Experiments, was die Flexibilität und Stabilität menschlicher Gesellschaftsordnungen angeht. Das Überleben unserer Zivilisation hängt davon ab, wie dieses Experiment verläuft.