Hybrides Denken

(© Melanie Vogel) Hybrides Denken als Notwendigkeit begann am 12. März 1989. Dieser Tag hat die Welt irreversibel verändert. An diesem Tag stellte Tim Berners-Lee im CERN ein Projekt vor, das auf einem Hypertext-System aufbaute und seiner Ansicht nach Forschungsergebnisse auf einfache Art und Weise „verflechten“ – sprich: vernetzten – konnte. Sein Ziel war eine vereinfachte Kommunikation mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Doch tatsächlich schuf er an diesem Tag die weltbewegende Grundlage für das – so wie er es später nannte – World Wide Web.

Das ist über 30 Jahre her und heute können wir mit Fug und Recht sagen: Das Internet ist das Betriebssystem der Welt. Ein funktionierendes Leben, Arbeiten und Kommunizieren ohne die Grundlage der digitalen Vernetzung erscheint heute unmöglich.

Tim Berners-Lee selbst sagte in den Anfangsjahren über das Internet: „Das World Wide Web ist eine großräumige Hypermedia-Initiative zur Informationsbeschaffung mit dem Ziel, den allgemeinen Zugang zu einer großen Sammlung von Dokumenten zu erlauben.“

Heute kann man von einer „Initiative“ nicht mehr sprechen. Das Internet ist die Grundlage für milliardenschwere Tech-Giganten, die unseren Alltag dominieren – egal, ob wir „googeln“, „twittern“, „facebooken“, online shoppen oder digitale Bücher lesen. Überall verdienen US-amerikanische Konzerne mit – entweder an den Daten, die wir ihnen freiwillig (gezwungen) zur Verfügung stellen oder an den Transaktionen, die wir über die riesigen Plattformen tätigen, die sich mittlerweile wie ein Krebsgeschwür über den Globus ziehen.

2007 gab es einen weiteren Phasensprung in der technologischen Entwicklung und der damit einhergehenden Digitalisierung und Vernetzung der Welt. Das iPhone erblickte das Licht der Welt. Von Null auf 2,5 Milliarden Usern bis zum Jahr 2018 – das ist die Erfolgsgeschichte des iPhones. Auch dieses technologische Gerät hat sich in das generelle Nutzerverhalten der Menschen weltweit eingebrannt. Menschen, die beim Gehen auf einen Bildschirm schauen, sind zur Normalität geworden – ebenso wie der reflexartige Griff zum „Smart Phone“ alle paar Minuten.

13 Jahre später findet ein elementarer Wendepunkt statt, den wir historisch in Zukunft sicherlich aus unterschiedlichen Perspektiven reflektieren und aufarbeiten werden müssen, um die Tragweite der Veränderung zu verstehen. Pandemie-bedingt wurden die Menschen im Jahr 2020 nicht nur weltweit ins Homeoffice verbannt, sondern auch zu sozialer Distanz angehalten. Wenn persönliche Treffen verboten sind, sind die sozialen Medien und das World Wide Web die einzigen Kontaktmöglichkeiten „nach draußen“. Seit diesem Jahr ist die Digitalität in der Bevölkerung angekommen. Das heißt, die Hinwendung zu globaler Konnektivität und digitaler Vernetzung ist zu einem dauerhaften Zustand geworden. Selbst diejenigen, die sich bis März 2020 noch weigerten, digitale Kommunikationstools zu nutzen, konnten sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr wegducken. Digitale Konferenzen, Zoom-Calls oder der tägliche Skype-Chat definieren seit dieser Zeit die „neue Normalität“.

Hybdrides Denken: Unsere Anpassungsfähigkeit bleibt dauerhaft gefordert.

In der Digitalität angekommen, wird das alltägliche Leben nicht zwangsläufig leichter oder weniger komplex. Ganz im Gegenteil. Der Mensch hat – vor allem durch das Bildungssystem – gelernt, linear zu denken. Um erfolgreich linear denken zu können, ist eine gewisse Simplizität der Außenwelt erforderlich, damit auf A ein B folgen kann. Diese Simplizität ist jedoch schon lange nicht mehr gegeben. Eine Welt, die digital und global vernetzt ist und am laufenden Band exponentiell Informationen produziert, ist nicht nebenher zu bewältigen. Wir müssen uns daher fragen:

  • Wie können wir mental mit der technologischen Entwicklung Schritt halten? Wenn jede Technologie ihre Kraft aus der jeweils vorangegangenen Technologie schöpft, müssten dann nicht auch unsere Technologie-Kompetenz und unser Technologie-Bewusstsein stärkend aufeinander aufbauen? Das mag bei den grundsätzlich technologie-affinen Menschen selbstverständlich funktionieren. Jedoch bei denen, die sich erst im Jahr 2020 mit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der virtuellen Konnektivität und der entsprechenden Nutzung von Plattformen und Hardware auseinandergesetzt haben, fehlen wichtige Kompetenz- und Bewusstseinsschritte, die einer „mündigen Nutzung“ zuwiderlaufen. Wir dürfen uns daher über Widerstände, sich mit den digitalen Arbeitsmethoden auseinanderzusetzen, nicht wundern, sondern müssen unternehmerisch und auch gesellschaftlich überlegen, wie wir sinnvolle – menschliche – Brücken bauen, um die digitale Kluft nicht noch größer werden zu lassen.
  • Wie und was müssen wir lernen? Das Beherrschen der Technologie ist das eine. Viel entscheidender ist jedoch, wie wir die digitalen Technologien und virtuellen Möglichkeiten jetzt und in Zukunft nutzen. Wie müssen und sollten wir kommunizieren? Wie innovieren Unternehmen und Teams, wenn Belegschaften nicht mehr zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind? Wie werden Prozesse sinnvoll verändert, wenn sich die Wissens-Arbeitswelt zunehmend hybrid gestaltet? Wie organisieren wir eine hybride Arbeitswelt? Wie schaffen wir den mentalen Spagat zwischen analogen und digitalen Arbeitsweisen? Wie finden wir die Schnittmengen aus denen sich hybride Prozesse gestalten lassen – und wir fügen wir hier die analogen und digitalen Strukturen nahtlos an, die sich nicht hybrid abbilden lassen, sondern entweder analog oder digital sind – aber nicht beides gleichzeitig ermöglichen?
  • Wie steuern und bestimmen wir den Weg? Wie denken und handeln wir zukünftig in einer hybriden Arbeitswelt? Wie lösen und gestalten wir dieses komplexe Problem, das es so in dieser Form noch nie gab?

Hybrides Denken heißt die Schlüsselkompetenz

Aus meiner Sicht kristallisiert sich immer mehr die notwendige Fähigkeit des hybriden Denkens als elementare Schlüsselkompetenz der Gegenwart heraus. Hybrides Denken bedeutet nicht nur, mental den Spagat zwischen analogen und digitalen Welten und Arbeitsweisen herzustellen, bewusst zu begreifen und zu gestalten, sondern es bedeutet, grundsätzlich in einem „Sowohl-als-auch“ zu denken. Nicht alles wird möglich, aber vieles ist seit 2020 sehr viel möglicher – also realer – geworden. Unser Weltbild ist heute vielschichtiger, unsere Realität um die Komponente der Virtualität erweitert. Wir können uns nicht mehr zwischen „Entweder-oder“ entscheiden, sondern müssen uns in analogen und digitalen Welten ebenso zurechtfinden, wie in der hybriden Mischform. Damit haben wir uns von unserer selbst geschaffenen linearen – und damit irrtümlich simplifizierten – Welt abgenabelt und emanzipiert.

Die Geburtswehen der Digitalisierung sind vorbei. Wir sind buchstäblich in der Digitalität zur Welt gekommen. Mit Simplifizierung und einer Rückkehr zum einstigen engstirnigen und kreativlosen „Entweder-oder“ ist es nicht mehr getan. Um mit hybriden Welten umgehen zu können, ist jetzt ein holistisches Systembewusstsein notwendig. Wir müssen lernen zu verstehen, dass sich analog und digital nicht nur gegenseitig bedingen, sondern auch auf unterschiedliche Weise unsere Aufmerksamkeit bündeln und gleichzeitig entzweien. Kompetenzen, die uns in der analogen Welt dienlich sind, sind nicht unbedingt eins zu eins auf die digitale Welt übertragbar, sondern müssen unter Umständen angepasst und verändert werden. Dazu brauchen wir das hybride Denken – aber auch Kreativität und Offenheit, dass sich Prozesse entwickeln dürfen, auch wenn der Ausgang noch ungewiss ist.

Dadurch ergibt sich ein weiterer Aspekt des hybriden Denkens: Das Silodenken ist passé, denn auch das Silodenken ist ein Denken in „Entweder-oder“-Prozessen. Hybrides Denken schafft die Grundlage für eine Zusammenarbeit über mentale und tatsächliche Grenzen hinweg. Eine hybride Arbeitswelt – in dieser Form bisher noch nie dagewesen – braucht Diskurse und Dialoge, um bestmögliche Ergebnisse zu erringen. Versuch und Irrtum müssen genauso möglich sein wie Erfolg und Wissen. Auch hier treffen wir erneut auf das bereits bekannte „Sowohl-als-auch“-Prinzip des hybriden Denkens.

Schließlich ist spricht ein weiterer Aspekt für die Notwendigkeit hybriden Denkens: Reines Faktenwissen ist out. Es macht uns zu mentalen Dinosauriern, denn wer sich auf Fakten verlässt verkennt die Tatsache, dass sich Informationen und Fakten in einer global vernetzten Welt unaufhörlich verändern. Eine rein faktenbasierte Welt ist eine simplifizierte, lineare Welt, die kaum bis keine Veränderung und Anpassung zulässt. Diese Welt haben wir vermutlich noch nie gehabt – doch spätestens seit 2020 muss auch die Illusion einer solchen Welt endgültig geplatzt sein. Eine zuvor in dieser Form noch nie dagewesene hybride Welt muss sich erst noch um Fakten bemühen. Bis diese zustande kommen, braucht es Phasen des Ausprobierens, des Veränderns und Anpassens. Das bedeutet, Faktenwissen wird mehr und mehr abgelöst durch Universalwissen, Ahnungen und Intuition. Durch ein Gefühl, wie es gehen könnte, bevor das Wissen darüber reifen kann, wie es sicher funktioniert.

Menschen, die das hybride Denken annehmen, werden mit der Dynamik und Ungewissheit der aktuellen Gegebenheiten sehr viel besser zurechtkommen, als die Menschen, die in den starren und linearen Denkweisen des 20. Jahrhunderts verhaftet bleiben.

Die positive Botschaft jedoch lautet: Bevor dem Menschen das lineare Denken antrainiert wird, ist hybrides Denken der normale Modus Operandi. Mindestens in den allerersten Lebensjahren. Die Fähigkeit ist also in jedem von uns vorhanden. Es ist lediglich eine Frage des Wollens, ob wir diese Schlüsselkompetenz wieder zum Leben erwecken wollen oder nicht.