Die Rückbesinnung auf das Wesentliche

(© Melanie Vogel) Fokus, Fokus, Fokus! Das ist das Mantra in vielen Unternehmen, die versuchen, in einer komplexen, dynamischen Welt den Überblick zu behalten. Doch worauf sollen wir den Fokus richten? Krisen sprießen wie Pilze aus dem Boden, genauso wie Chancen und Perspektiven. Das Neue und das Alte geben sich in einem atemberaubenden Tempo quasi die Türklinke in die Hand. Der eigene Nacken fühlt sich an wie nach einem Schleudertrauma, weil man gar nicht so genau weiß, wohin man seinen Blick und seine Aufmerksamkeit als nächstes richten soll.

Wir können nicht Fokussieren, wenn wir nicht wissen, worauf wir unsere Gedanken lenken sollen. Wir können nicht bei uns bleiben, wenn uns jede neue Information aus der Bahn wirft. Daher wird die Frage nach dem Wesentlichen immer relevanter. Was ist denn das, worum es wirklich geht?

Prinzipiell wissen wir, dass wir nur dann erfolgreich sind, wenn wir aus den Informationsfluten das jeweils Wesentliche herausarbeiten, um Klarheit zu gewinnen. Doch tatsächlich haben wir nie wirklich gelernt, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen – oder die Existenz von der Essenz zu unterscheiden, so wie es Jean-Paul Sartre vorschlug.

Essenz vs. Existenz

Sartre vertrat die Auffassung, dass der Mensch zuerst in die Welt eintritt (existiert) und sich dann im Laufe seines Lebens definiert – also gewissermaßen seine Essenz findet, die Sinnhaftigkeit des eigenen Seins. Daraus ergibt sich die Grundidee des Existenzialismus, dass jeder Mensch „dazu verurteilt ist, frei zu sein“. Verurteilt, weil er – in die Welt geworfen, also mit einer Existenz „belastet“ – versuchen muss, das Beste aus dieser Existenz, die sich Leben nennt, zu machen.

Übertragen auf die aktuelle Orientierung in einer komplexen Welt könnten wir schlussfolgern, dass wir zu jeder Zeit dazu verurteilt sind, das Wesentliche – die Essenz von allem – zu finden, weil nur das unsere Existenz (z. B. als Führungskraft oder Unternehmensinhaber) rechtfertigt.

Damit wäre zwar die Frage der Verantwortung geklärt, jedoch noch immer nicht die Frage danach, was das Wesentliche ist – und woran wir es erkennen?

Ein philosophischer Grundgedanke besagt, das Wesentliche ist das, was zu einem Wesen dazugehört, also das Sein konstituiert. Übertragen auf den aktuellen Kontext müssten wir uns folglich bei allem, was uns unternehmerisch wichtig und richtig erscheint, überprüfen, was dieses Wichtige ausmacht – also gewissermaßen charakterisiert. Und was von diesen Eigenschaften ist so essenziell, dass es unbedingt zu dem Seienden dazugehört? Wenn wir das herausarbeiten, haben wir – möglicherweise – das Wesentliche entdeckt.

Zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Platon beantwortet die Frage des Wesentlichen mit der „Washeit“ – dem, was ganz konkret ist. Das Wesentliche ist das Unwandelbare und Unauflösliche und damit das Gegenstück zu dem, was erst noch werden kann. In die heutige Welt übertragen, würden wir bei der Frage nach dem Wesentlichen gewissermaßen zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden. Wesentlich wäre das Reale, weil wir damit konkret umgehen und arbeiten können, während die Fiktion etwas Visionäres und Zukünftiges ist, das zwar sein könnte, aber noch nicht ist. Und da es noch nicht ist, brauchen wir uns damit aktuell auch (noch) nicht beschäftigen.

Eine weitere philosophische Annäherung besteht darin, dass wir dem Wesentlichen „Substanz“ beimessen. Etwas, mit dem wir uns wesentlich beschäftigen, sollte also substanziell – und damit von Bedeutung – sein. Damit steht die Substanz im Gegenteil zur Akzidens, dem nicht Wesentlichen, dem, was sich verändert und vielleicht sogar zufällig ist. Diese Unterscheidung kann uns im aktuellen Kontext insofern helfen, als dass wir alles, was aktuell geschieht, auf Anomalien hin untersuchen können. Im Innovationskontext sind Anomalien eine Unterart von Zufällen, die man als „Serendipity“ bezeichnet. Als nicht Gewolltes, das sich im Nachgang aber dennoch als nützlich und somit als substanziell herausstellt.

Und weil es jetzt langsam unübersichtlich wird, könnten wir uns der Kategorisierung nach Aristoteles behelfen, der einen Gegenstand in zehn Kategorien einteilte, um so herauszufinden, ob dieser Gegenstand etwas wesentlich Substanzielles an sich hat, oder in die Kategorie des Flüchtig-Zufälligen fällt.

Die 10 Kategorien des Aristoteles:

  1. Substanz: Was ist etwas?
  2. Quantität/Größe: Wie viel/groß ist etwas?
  3. Qualität: Wie beschaffen ist etwas?
  4. Relation: Worauf bezieht sich etwas?
  5. Zeitbestimmung: Wann ist etwas?
  6. Ortsbestimmung: Wo/In welcher Position ist etwas?
  7. Tätigkeit: Was tut etwas?
  8. Erleiden: Was erleidet etwas?
  9. Lage: In welcher Lage ist etwas?
  10. Besitz: Wer hat etwas?

Die Kategorien 2 bis 10 gehörten für ihn zur Akzidens, denn diese Aspekte können sich verändern. Etwas wird umso substanzieller, je geringer die Veränderungsdynamik der Kategorien 2 bis 10 sind.

Wie Jeff Bezos das Wesentliche herausarbeitet

An dieser Stelle springen wir jetzt einfach mal mutig einen großen Sprung in die Gegenwart und lernen von Jeff Bezos. Der ist zwar kein Philosoph, jedoch bezogen auf seine Unternehmensphilosophie sagte er einmal folgendes:

„Ich bekomme sehr häufig die Frage gestellt: Was wird sich in den nächsten 10 Jahren ändern? Und das ist eine interessante Frage; sie ist sehr weit verbreitet. Ich bekomme jedoch fast nie die Frage gestellt: Was wird sich in den nächsten 10 Jahren nicht ändern? Und ich behaupte, dass diese zweite Frage eigentlich die wichtigere der beiden Fragen ist, denn Sie können eine Geschäftsstrategie nur um die Dinge herum aufbauen, die zeitlich stabil sind. Wenn man etwas hat, von dem man weiß, dass es langfristig Bestand hat, kann man es sich leisten, viel Energie darauf zu verwenden.“[1]

Vor der Frage „Was ist das Wesentliche?“ ist die Antwort von Jeff Bezos unternehmerisch gesehen unter Umständen vielleicht diejenige, die am zielführendsten ist. Denn wozu sollen wir uns unternehmerisch mit Themen beschäftigen, die flüchtig sind und keinen Bestand haben? Was wäre, wenn wir uns unternehmerisch ausschließlich auf die Dinge fokussieren, die vermutlich auch in 10 Jahren noch Bestand haben werden? Welche werden das sein?

Wenn wir die Frage beantworten wollen – und aktuell ist es eine der schwierigsten unternehmerischen Fragen überhaupt – können wir die philosophischen Annäherungen der letzten 2.000 Jahre an das Wesentliche zur gedanklichen Unterstützung heranziehen.

  • Was ist Existenziell und was ist die Essenz?
  • Was ist (z.B. für unsere Kunden) auch in 10 Jahren noch das wirklich Wichtige?
  • Was ist Wirklich und was sind Hirngespinste und kann unter Fiktion verbucht werden?
  • Was ist Substanziell und was ist vorübergehend?
  • Wo treffen wir auf Anomalien und haben diese eine substanzielle Bedeutung?

Kostenfreies Schnupper-Webinar am 20. April

Möchten Sie tiefer eintauchen, in das, was Wesentlich ist?
Dann lassen Sie sich in meinem kostenfreien Schnupper-Webinar aus der Philotopia-Reihe inspirieren:

Was ist das Wesentliche?
20. April
8:30 – 9:30 Uhr

>> Zur kostenfreien Anmeldung <<

[1] Amazon Strategy Teardown, CBINSIGHTS