Der Sinn für das Mögliche

(© Melanie Vogel) Die Zukunft existiert nicht wirklich. Sie ist weder gegenwärtig noch abwesend, sondern sie bleibt immer außer Reichweite. Als Fiktion, als Utopie oder Dystopie. Die einzige Realität, die wir haben, ist die Gegenwart. Allerdings kann können zumindest die Menschen in Leistungsgesellschaften nicht ohne einen Zukunftssinn leben. Da Leistung immer auf die Zukunft ausgerichtet ist, entsteht zwangsläufig ein Zukunftsbedürfnis, nach dem wir unser Leistungs- und Lebensstreben ausrichten können.

Die nicht wirkliche Zukunft beeinflusst daher unsere Gegenwart. Das, worüber wir sprechen, wenn wir die Zukunft meinen, sind Möglichkeiten. Aspekte, Situationen und Zustände, die wir uns konkret vorstellen können oder die wir uns wünschen. Über zukünftige Möglichkeiten kreieren wir eine offene Vielfalt an Optionen, die uns Spielraum lassen, unsere Handlungen jeweils situativ (neu) ausrichten zu können.

Futuristen sprechen daher von “Zukünften” und betonen, dass es nicht die eine Zukunft gibt, sondern dass wir sehr viel variabler und zukunftsfähiger werden, wenn wir uns unterschiedliche Zukünfte (= Zukunftsszenarien) vorstellen können. So bleiben wir handlungsfähig. Das Konzept der Alternativlosigkeit findet keinen Nährboden und die Wahrscheinlichkeit in Frust und Hoffnungslosigkeit zu verfallen, wenn die eine Zukunft nicht eintritt, schwindet, denn es gibt ja weitere Zukünfte zur Auswahl.

Was wir für möglich oder wünschenswert halten, hängt entscheidend von unserem Weltbild ab, also von unseren Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert, wie die Realität beschaffen ist und wie wir darin zusammenleben sollten. Verinnerlichte Vorstellungen von “richtig” und “Falsch” kommen hier genauso zur Geltung wie kollektive moralische Vorstellungen dessen “was geht” und “was gar nicht geht”.

Diese Denk-Modelle, sowohl individuell als auch kollektiv, sind alles andere als vollkommen und weisen viele Ungenauigkeiten und Vorurteile auf, da sie nie exakt der Realität entsprechen. In der Philosophie, und nicht nur in der westlichen, stellt dies eine Herausforderung dar. Die Frage lautet seit Tausenden von Jahren: Was existiert “in” unseren Köpfen, und was spielt sich “draußen” tatsächlich ab? Sobald man anfängt, diese Frage genauer untersuchen, erscheint sie immer undurchsichtiger.
Trotz aller Unklarheiten und Widersprüche lassen sich dennoch zwei Mächte identifizieren:

  • die Macht, die Realität durch Technologie zu gestalten
  • die Macht, das Denken der Menschen mental zu beeinflussen

Wenn wir diese beiden Kräfte als Ausgangspunkt nehmen, um über den “Möglichkeitsraum Zukunft” nachzudenken, ergeben sich zwei entsprechende Fragen:

  • Was halten wir für möglich?
  • Was ist tatsächlich möglich?

Der offensichtliche Unterschied besteht darin, dass das, was wir für möglich halten, nicht unbedingt der Realität entsprechen muss, und wir halten keineswegs alles für möglich, was eigentlich sein könnte.

Unser Möglichkeitsraum sollte daher so offen wie möglich sein. Unsere Vorstellungskraft ist oft zu begrenzt, und wir können uns zu wenige Alternativen vorstellen. Dadurch beschränken wir unsere Handlungsfreiheit unnötig, indem wir in unserer Vorstellung die Möglichkeiten entscheiden, die die “Realität” eigentlich beantworten sollte.

Wir müssen mutiger sein und neue Wege ausprobieren. Wir brauchen den Willen, den erweiterten Möglichkeitsraum zu erforschen und echte Alternativen zu schaffen, um zu zeigen, dass es auch anders geht.

Gerade in Zeiten fundamentaler Veränderungen ist ein begrenzter Möglichkeitsraum gefährlich, weil wir dazu neigen, diesen Raum sorglos zu bespielen. Mögliche Gefahren verwandeln wir allzu schnell in düstere Dystopien und überschwemmen damit unser Informations-Ökosystem. Das verursacht Stress und lässt keinen Raum mehr für utopische Gedankengänge, die parallel auch immer gleichwertig neben den dystopischen Ideen existieren, denn: Die eine Zukunft gibt es nicht. Die Zukunft ist nicht einmal real.

Fangen wir also wieder an, zu träumen, positive Visionen und Utopien zu erschaffen. Erinnern wir uns an unseren angeborenen Sinn für das Mögliche und machen wir unsere Sehnsüchte nach einer besseren Welt zu Verbündeten unseres Handelns.


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