Warum Entropie mehr über uns verrät als über das Universum

(© Melanie Vogel) Es gibt Gesetze der Physik, denen niemand entkommt: der Gravitation, der Lichtgeschwindigkeit – und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Letzterer ist in Wahrheit ein stiller Chronist unseres Scheiterns und unserer Hoffnungen: Entropie, das Maß für Unordnung, für verlorene Energie – und, wie sich zeigt, auch für verlorenes Wissen. Vor genau 200 Jahren begann der französische Ingenieur Sadi Carnot, die „Antriebskraft des Feuers“ zu vermessen. Seine Erkenntnis: Perfektion in der Energieumwandlung ist unmöglich. Was folgte, war die Geburt der Thermodynamik – und der Beginn einer tiefen philosophischen Reise.

Zerfall als Normalzustand

Alles im Universum strebt zur Unordnung. Sterne explodieren, Gebäude verfallen, Erinnerungen verblassen. Die Entropie steigt – immer. Und doch ist diese Unordnung nicht einfach chaotisch. Sie ist statistisch wahrscheinlich. Je mehr mögliche Zustände ein System haben kann, desto größer ist seine Entropie. Ordnung ist rar, Zerfall ist wahrscheinlich.

„Nichts im Leben ist sicher außer dem Tod, den Steuern und dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“, schrieb MIT-Physiker Seth Lloyd. Und doch ist dieser Satz nicht nur ein physikalischer, sondern ein zutiefst menschlicher. Denn mit jeder verlorenen Information, jeder neuen Unsicherheit über mikroskopische Details wird klar: Entropie ist auch ein Spiegel unserer Unwissenheit.

Information als neue Energie

Claude Shannon, der Vater der Informationstheorie, bewies in den 1940er Jahren, dass Entropie auch die Unsicherheit über eine Nachricht beschreibt. Je weniger wir wissen, desto größer die Entropie – und desto mehr Energie bräuchten wir, um das Unbekannte zu kontrollieren.

Heute denken Physiker Entropie nicht mehr nur thermodynamisch. Sie konstruieren Informationsmaschinen, inspiriert von Szilards Gedankenexperimenten, in denen Wissen buchstäblich Arbeit erzeugt. In Laboren werden Quantenperlen gefangen, Elektronen in Kohlenstoffröhrchen tanzen gelassen – um zu beweisen, dass der Informationsgehalt einer Messung die Effizienz der Maschine bestimmt.

Subjektive Physik

Doch wer bestimmt eigentlich, was wir wissen können? Die moderne Physik hat akzeptiert, dass selbst Entropie vom Beobachter abhängt. Das sogenannte Gibbs-Paradoxon zeigt: Zwei Gase, die ununterscheidbar erscheinen, haben keine veränderbare Entropie – bis jemand eine Methode findet, sie zu unterscheiden. Mit Wissen wächst das Potenzial – und die Realität verändert sich.

Damit wird Entropie zu einer zutiefst subjektiven Größe. Das Chaos liegt nicht in den Dingen – sondern in unserem Blick auf sie.

Kosmisches Maß der Menschlichkeit

Wir erleben heute eine neue industrielle Revolution im Mikromaßstab. Wo einst Dampfmaschinen antrieben, nutzen wir heute Quantenfluktuationen und Information, um Effizienz neu zu definieren. Doch diese Revolution ist – so hoffen zumindest ihre Protagonisten – achtsamer, nachhaltiger, menschlicher.

Die große Erkenntnis: Entropie ist kein bloßes Verhängnis. Sie ist Bedingung für das Neue, für Lernen, für Entscheidungsfreiheit. Und sie ist das, was uns Menschen im Innersten antreibt.

„Die Zeit der Physik ist letztlich der Ausdruck unserer Unwissenheit über die Welt“, sagt Carlo Rovelli.

In dieser Unsicherheit liegt kein Versagen – sondern das Versprechen, dass Erkenntnis nie endet.

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