Die digitale Welt: Spaltung statt Synthese

(© Melanie Vogel) Die digitale Welt zwingt uns in eine binäre Logik von 0 und 1. Diese Struktur widerspricht grundlegenden Prinzipien der europäischen Geistesgeschichte. Statt in These und Antithese zu denken und nach einem dritten Weg zu suchen, dominiert eine Polarisierung, die Dialog und Differenzierung erschwert. Diese Entwicklung wurde bereits in den 1970er Jahren von Medienwissenschaftlern wie Marshall McLuhan unter dem Motto “The medium is the message” prognostiziert: Das Medium formt unsere Kommunikation und damit auch unsere Wahrnehmung und Weltanschauung. Eine machtvolle zentrale Kraft lenkt uns unbewusst: Algorithmen, die zunehmend die Kontrolle unseres Denkens durch Künstliche Intelligenz (KI) übernehmen.

Wer kontrolliert die Algorithmen?

Algorithmen prägen nicht nur, was wir denken, sondern auch, wie wir denken. Diskurse werden mathematisch normiert und auf Binarität reduziert, was tiefgreifende Konsequenzen für unsere Gesellschaft hat. Statt kritischen Dialogen werden komplexe Sachverhalte in “Schwarz-Weiß” – also Null und Eins – gepresst. Grauzonen verschwinden nicht nur aus dem Geist, sondern auch aus dem Gespräch. Auftretende Dilemmata, Ambiguitäten und Mehrdeutigkeiten werden nicht mehr ertragen und folglich unterdrückt.

Die zentrale Frage hier lautet: Wer kontrolliert die Algorithmen? Wer entscheidet, welche Informationen Google, Wikipedia oder KI-Systeme wie ChatGPT bereitstellen? Diese Herrschaftsfrage ist entscheidend in einer Welt, in der wir zunehmend von algorithmischen Prozessen beherrscht werden. Anders als bei vergangenen technologischen Systemen ist der Algorithmus heute wesentlich komplexer und schwerer zu entschlüsseln. Hierüber verlieren wir unsere Fähigkeit, kritisch zu hinterfragen und zu analysieren.

Die Gefahr der Normierung: Verlust von Kontext und Realität

Erschreckend hierbei ist der Verlust von Kontext und die Fragmentierung von Geschichte. Ereignisse werden isoliert betrachtet, als hätten sie keine Vorgeschichte. Beispielhaft zeigt sich das in politischen Narrativen, die mantraartig wiederholt werden, ohne tiefergehende historische oder politische Zusammenhänge zu beleuchten. Diese „Framing“-Mechanismen nehmen uns die Fähigkeit, kritisch zu denken und Zusammenhänge zu erkennen.

Auch unsere Wahrnehmung von Realität wird durch digitale Technologien verändert. Filter und Algorithmen schaffen glatte, harmonisierte Oberflächen, die uns von der analogen Welt entfremden. Pickel, Falten oder Schmutz – alles, was „unperfekt“ ist, wird ausgeblendet. Wir sind zunehmend „weichgezeichnet“ – sowohl äußerlich als auch innerlich. Die digitale Welt vermittelt uns eine heile, aber illusorische Realität, die eine echte Auseinandersetzung mit der Welt verdrängt.

Der Menschliche Geist: Unsere (letzte) Hoffnung?

Hoffnung liegt – möglicherweise – in unserem intuitiven, emotionalen und analogen Erleben. Wir dürfen uns nicht ausschließlich auf Maschinen verlassen, sondern müssen unsere Sinne, unser Bauchgefühl und unsere Vernunft schärfen. Der Mensch ist nicht bloß ein rationales Wesen; vielmehr werden die meisten Entscheidungen emotional getroffen, wie Daniel Kahneman in “Thinking, Fast and Slow” aufzeigt.

Der menschliche Geist bleibt unersetzlich. Technik kann unser Leben bereichern, aber sie darf uns nicht ersetzen. Der utopische Raum des Träumens, Hoffens und Glaubens gehört untrennbar zum Menschsein. In einer Welt, die immer stärker von digitalen Technologien beherrscht wird, ist es entscheidend, unsere analogen Wurzeln zu bewahren.

das Analoge retten

Ein zentraler Aspekt ist die Frage nach dem Zugang zu Wissen. Wenn die digitale Clouds und Server unser einziges Archiv werden, laufen wir Gefahr, unser kulturelles Erbe zu verlieren. Bücher könnten durch digitale Manipulation verändert werden – beispielsweise, indem Begriffe ersetzt werden, weil sie einem aktuellen Narrativ zuwiderlaufen. Fehlt uns das gedruckte Buch, bleiben solche Manipulationen nicht nur unentdeckt, sondern auf diese Weise werden Geschichten umgeschrieben, ohne dass die Menschheit davon erfährt. Es ist und bleibt wichtig, physische Bücher und Bibliotheken als Quelle unveränderbarer Wahrheit zu bewahren. Und es bleibt weiterhin wichtig, Bücher zu lesen und insbesondere Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Büchern nahezubringen und diesen zu erhalten.

Doch auch das Internet selbst wird permanent manipuliert. Aktuelles Beispiel, das in diesem Fall medial wurde, ist der Heise-Verlag, der im Dezember 2024 begonnen hat, auf der Webseite Telepolis 50.000 (!) Artikel aus dem Zeitraum 1996-2020 zu löschen, also aus dem digital-kulturellen Gedächtnis zu eliminieren. Begründet wird dies im Sinne des aktuellen Neusprech mit einer “Qualitätsoffensive“. Ehemalige Gründer und Redakteure äußern scharfe Kritik. Deren Arbeit ist nicht nur weg, sondern mit ihr auch das Wissen, Hintergrundinformationen aus einer anderen Zeit und damit ein historischer Kontext, der nun nicht mehr abrufbar ist. Milosz Matuschek schreibt in seinem NewsLetter “Freischwebende Intelligenz” am 14. Dezember 2024 dazu: “Das Verhalten des Verlages ist noch jämmerlicher, wenn man bedenkt, dass die Telepolis-Inhalte ein wichtiges Kulturgut von öffentlichem Interesse darstellen, welches nach dem Bundesarchivgesetz sogar gesetzlich archiviert werden müsste.

Ein Aufruf zur Selbstermächtigung

Die Zukunft der Menschheit wird nicht durch Maschinen entschieden, sondern durch unsere Fähigkeit, Technologie und (technologische) Medien kritisch und bewusst zu nutzen. Die Gefahr, dass Algorithmen unsere Wahrnehmung und Realität diktieren, ist real – doch ebenso real ist unsere Fähigkeit, uns dem zu widersetzen. Die Lösung liegt in einer bewussten Rückbesinnung auf das Analoge, auf menschliche Intuition und echte zwischenmenschliche Verbindungen. Der Weg aus der digitalen Entfremdung führt zurück zu unseren Sinnen, zu unserer Menschlichkeit und zur Bereitschaft, Technologie als Werkzeug und nicht als Meister zu nutzen. Ein analoges Leben in einer digitalen Welt mag wie ein Widerspruch erscheinen, doch es könnte unser Schlüssel zur Freiheit sein.


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